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Gerichtsentscheide Bundesgerichtsentscheide 2C_112/2007

 

Bundesgerichtsentscheid

Tribunale federale
Tribunal federal

 

{T 1/2}
2C_112/2007 /wim

 

Urteil vom 11. September 2007
II. öffentlich-rechtliche Abteilung

 

Besetzung
Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Müller,
Ersatzrichter Locher,
Gerichtsschreiberin Dubs.

 

 

Parteien

Jürg Lieberherr, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Dr. Ernst Küng,

 

gegen

 

Steueramt des Kantons Aargau, Rechtsdienst, Telli-Hochhaus, 5004 Aarau,
Kantonales Steueramt Zürich, Dienstabteilung Recht, Bändliweg 21, 8090 Zürich,
Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 2. Kammer, Obere Vorstadt 40, 5000 Aarau.

 

 

Gegenstand

Art. 127 Abs. 3 BV (Doppelbesteuerung),

 

Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau vom 7. Februar 2007.

 

Sachverhalt:

A.

Jürg Lieberherr, geb. 1946, dipl. Masch. Ing ETH, ist verheiratet. Seine Familie (Ehefrau, Kinder) wohnt in einem Einfamilienhaus in Zumikon (Kanton Zürich), und dort unterhält Jürg Lieberherr gesellschaftliche Beziehungen. 1994 wurde er zum Direktor der Vereinigten Schweizerischen Rheinsalinen mit Sitz in Schweizerhalle, Pratteln/BL, ernannt. Er meldete sich per 1. Oktober 1994 in Rheinfelden (Kanton Aargau), wo er über eine Zweizimmerwohnung verfügt, als Wochenaufenthalter an. Tatsächlich verbringt er nur zwei bis drei Nächte in Rheinfelden (AG) und unterhält dort keine persönlichen Beziehungen.

B.

Mit Verfügung vom 28. April 2005 stellte die Steuerkommission Rheinfelden (AG) fest, das Hauptsteuerdomizil von Jürg Lieberherr befinde sich ab 1. Januar 2004 in Rheinfelden (AG). Der Ort der Familienniederlassung stelle ein sekundäres Steuerdomizil dar, weshalb das Erwerbseinkommen von Jürg Lieberherr sowie das bewegliche Vermögen je hälftig auf die beiden Steuerdomizile aufzuteilen sei. Eine gegen diese Feststellungsverfügung gerichtete Einsprache von Jürg Lieberherr wies die Steuerkommission Rheinfelden (AG) am 17. August 2005 ab. Ein Rekurs an das Steuerrekursgericht des Kantons Aargau sowie eine Beschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau blieben am 31. Mai 2006 bzw. am 7. Februar 2007 erfolglos.

C.

Jürg Lieberherr erhebt mit Eingabe vom 5. April 2007 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wegen Verletzung von Art. 127 Abs. 3 BV und beantragt, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau vom 7. Februar 2007 (versandt am 5. März 2007) aufzuheben und festzustellen, dass er im Kanton Aargau nicht steuerpflichtig sei. Eventualiter für den Fall, dass er im Kanton Aargau steuerpflichtig sei, stellt er den Antrag, die Steuerveranlagungen des Kantons Zürich seit 1. Januar 2004 aufzuheben und den Kanton Zürich und die Gemeinde Zumikon (ZH) zu verurteilen, die seit 1. Januar 2004 zuviel bezahlten Steuern auf die Hälfte des Erwerbseinkommens, des beweglichen Vermögens und dessen Ertrag zuzüglich 5 % Zins seit der Zahlung der Steuern dem Beschwerdeführer zurückzuerstatten.

D.

Die Steuerverwaltung des Kantons Aargau beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit sie sich gegen den Kanton Aargau richtet, und das kantonale Steueramt Zürich beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit sie sich gegen den Kanton Zürich richtet. Das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau verzichtet auf eine Vernehmlassung, und die Eidgenössische Steuerverwaltung schliesst auf Abweisung der Beschwerde.

 

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.

1.1 Das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Der angefochtene Entscheid ist nach diesem Zeitpunkt ergangen, weshalb sich das vorliegende Verfahren gemäss Art. 132 Abs. 1 BGG nach diesem Gesetz richtet.

1.2 Bestreitet eine zur Veranlagung herangezogene Person die Steuerhoheit des Kantons, ist grundsätzlich in einem Vorentscheid rechtskräftig über die Steuerpflicht zu entscheiden, bevor das Veranlagungsverfahren fortgesetzt werden kann. Gegen den kantonal letztinstanzlichen Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau betreffend die Feststellung der Steuerpflicht ab 1. Januar 2004 ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten zulässig (Art. 82 lit. a in Verbindung mit Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG). Der Beschwerdeführer ist gestützt auf Art. 89 Abs. 1 BGG zur Anfechtung des vorinstanzlichen Entscheids legitimiert. Auf die frist- und formgerecht eingereichte Beschwerde ist grundsätzlich einzutreten. Nicht einzutreten ist auf die Beschwerde, soweit mit dem Begehren um Abgeltung sämtlicher ausserordentlicher Kosten Ersatzansprüche gestellt werden sollen, die über den Streitgegenstand hinausgehen.

1.3 Bei Beschwerden wegen interkantonaler Kompetenzkonflikte können die bereits rechtskräftigen Veranlagungen des Kantons Zürich ab Steuerperiode 2004 ebenfalls mit angefochten werden (Art. 100 Abs. 5 BGG, vgl. noch BGE 131 I 145 E. 2.1 S. 147). Dabei spielt keine Rolle, dass es sich hierbei nicht um Urteile im Sinne von Art. 86 BGG handelt (BBl 2001 4326). Soweit allerdings nebst der allfälligen Rückerstattung der bezahlten Steuern auch deren Verzinsung verlangt wird, kann auf die Beschwerde nicht eingetreten werden; denn ein etwaiger Anspruch auf Verzinsung von zuviel bezahlten Staats- und Gemeindesteuern ist nicht im Doppelbesteuerungsverbot von Art. 127 Abs. 3 BV begründet; er richtet sich vielmehr ausschliesslich nach kantonalem Recht und ist bisher nicht Gegenstand eines Entscheids gewesen, weshalb darüber nicht im Rahmen des vorliegenden Verfahrens entschieden werden kann.

2.

Eine gegen Art. 127 Abs. 3 BV verstossende Doppelbesteuerung liegt vor, wenn eine steuerpflichtige Person von zwei oder mehreren Kantonen für das gleiche Steuerobjekt und für die gleiche Zeit zu Steuern herangezogen wird (aktuelle Doppelbesteuerung) oder wenn ein Kanton in Verletzung der geltenden Kollisionsnormen seine Steuerhoheit überschreitet und eine Steuer erhebt, die einem anderen Kanton zusteht (virtuelle Doppelbesteuerung). Ausserdem darf ein Kanton eine steuerpflichtige Person grundsätzlich nicht deshalb stärker belasten, weil sie nicht im vollem Umfang seiner Steuerhoheit untersteht, sondern zufolge ihrer territorialen Beziehungen auch noch in einem anderen Kanton steuerpflichtig ist (Schlechterstellungsverbot, vgl. BGE 132 I 29 E. 2.1 S. 31 f.; 131 I 285 E. 2.1 S. 286; ASA 74, 684 E. 2.1 S. 685, je mit Hinweisen).

Im vorliegenden Fall wird das Hauptsteuerdomizil des Beschwerdeführers vom 1. Januar 2004 an sowohl vom Kanton Zürich, wo er seither für mehrere Steuerperioden rechtskräftig eingeschätzt worden ist, als auch vom Kanton Aargau beansprucht, wobei dieser von einem Nebensteuerdomizil im Kanton Zürich ausgeht. Damit resultiert ab der Steuerperiode 2004 eine aktuelle Doppelbesteuerung.

3.

3.1 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 127 Abs. 3 BV (bzw. Art. 46 Abs. 2 aBV) ist der steuerrechtliche Wohnsitz (Hauptsteuerdomizil) einer unselbständig erwerbenden Person derjenige Ort, wo sich die betreffende Person mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält bzw. wo sich der Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen befindet (Art. 3 Abs. 2 DBG; Art. 3 Abs. 2 StHG; vgl. Art. 23 Abs. 1 ZGB; BGE 132 I 29 E. 4.1 S. 35 f.; Kurt Locher/Peter Locher, Die Praxis der Bundessteuern, III. Teil: Das interkantonale Doppelbesteuerungsrecht, § 3, I B, 1 b Nr. 20). Dieser Mittelpunkt der Lebensinteressen bestimmt sich nach der Gesamtheit der objektiven, äusseren Umstände, aus denen sich diese Interessen erkennen lassen, nicht nach den bloss erklärten Wünschen der steuerpflichtigen Person. Auf die gefühlsmässige Bevorzugung eines Ortes kommt es nicht an; der steuerrechtliche Wohnsitz ist insofern nicht frei wählbar. Dem polizeilichen Domizil, wo die Schriften hinterlegt sind oder wo die politischen Rechte ausgeübt werden, kommt keine entscheidende Bedeutung zu; dabei handelt es sich bloss um äussere Merkmale, die ein Indiz für den steuerrechtlichen Wohnsitz bilden können (statt vieler: BGE 132 I 29 E. 4.1 S. 36). Wenn sich eine Person abwechslungsweise an zwei Orten aufhält, namentlich wenn ihr Arbeitsort und ihr sonstiger Aufenthaltsort auseinander fallen, ist für die Bestimmung des steuerrechtlichen Wohnsitzes darauf abzustellen, zu welchem Ort sie die stärkeren Beziehungen unterhält. Bei unselbständig erwerbenden Steuerpflichtigen ist das gewöhnlich der Ort, wo sie für längere oder unbestimmte Zeit Aufenthalt nehmen, um von dort aus der täglichen Arbeit nachzugehen, ist doch der Zweck des Lebensunterhalts dauernder Natur. Die Frage, zu welchem der Aufenthaltsorte die steuerpflichtige Person die stärkeren Beziehungen unterhält, ist jeweils aufgrund der Gesamtheit der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen (BGE 132 I 29 E. 4.2 S. 36 f. mit Hinweisen).

Bei verheirateten Personen mit Beziehungen zu mehreren Orten werden die persönlichen und familiären Kontakte zum Ort, wo sich ihre Familie (Ehegatte und Kinder) aufhält, als stärker erachtet als diejenigen zum Arbeitsort, wenn sie in nicht leitender Stellung unselbständig erwerbstätig sind und täglich oder an den Wochenenden regelmässig an den Familienort zurückkehren. Demnach unterstehen verheiratete Pendler oder Wochenaufenthalter grundsätzlich ausschliesslich der Steuerhoheit desjenigen Kantons, in dem sich ihre Familie aufhält (BGE 132 I 29 E. 4.2 und 4.3 S. 36 f. mit Hinweisen). Anders verhält es sich jedoch in der Regel, wenn die steuerpflichtige Person eine unselbständige Erwerbstätigkeit in leitender Stellung ausübt. Wenn diese Person an den Wochenenden und während ihrer Freizeit zu ihrer Familie zurückkehrt, so befindet sich das Hauptsteuerdomizil nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung am Arbeitsort, und am Aufenthaltsort der Familie besteht ein sekundärer Steuerwohnsitz. Wenn diese steuerpflichtige Person hingegen jeden Tag zu ihrer Familie zurückkehrt, so betrachtet das Bundesgericht den Aufenthaltsort der Familie als Steuerwohnsitz, selbst wenn die steuerpflichtige Person eine leitende Stellung inne hat (BGE 132 I 29 E. 4.2 S. 36 f. Locher/Locher, a.a.O., § 3, I B, 1 b Nr. 20).

3.2 Hier ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer an sich eine leitende Stellung innehat und nicht täglich an den Familienort zurückfährt, insbesondere kein Pendler ist. Er ist aber auch kein echter Wochenaufenthalter, welcher nur einmal pro Woche, nämlich in der Regel über das Wochenende, zu seiner Familie zurückkehrt (vgl. Urteil 2P.251/2006 vom 25. Januar 2007 E. 4.2 , publ. in: BStPra 6/2007 S. 475, S. 478 f.). Nach eigenen Angaben des Beschwerdeführers, die von den Aargauer Steuerbehörden nicht angezweifelt werden und auf die auch das Verwaltungsgericht abzustellen scheint, übernachtet er während der Woche durchschnittlich zwei- bis dreimal in Rheinfelden. Damit verbringt der Beschwerdeführer nebst den Wochenenden und den freien Tagen regelmässig auch noch mehrere Nächte pro Woche am Familienort, soweit er sich nicht auf Geschäftsreisen befindet. Damit kann nicht mehr gesagt werden, die Bindungen an den Arbeitsort seien so stark, dass die familiären und sozialen Bande als zweitrangig zu bezeichnen seien. Vielmehr hat der Familienort den üblichen Stellenwert, der es verbietet, hier die für ausgesprochene Ausnahmesituationen geschaffene Teilung der Steuerhoheit bei leitender Stellung (BGE 132 I 29 E. 5.3 S. 41 unter Hinweis auf BGE 125 I 458 E. 2d S. 468) anzunehmen.

3.3 Im Weiteren ist hervorzuheben, dass der Beschwerdeführer in Rheinfelden wohl eine kleine Wohnung hat, in der er zwei- bis dreimal pro Woche übernachtet. Der eigentliche Arbeitsort befindet sich jedoch im rund zehn Kilometer entfernten Pratteln, d.h. im Kanton Basel-Landschaft. Dazu ist festzuhalten, dass in denjenigen Fällen, in welchen das Bundesgericht aufgrund einer leitenden Stellung einen vom dauernden Aufenthaltsort der Familie getrennten Steuerwohnsitz anerkannt hatte, die steuerpflichtige Person am Arbeitsort über eine eigene Wohnung verfügte oder zumindest eine Pensionsgelegenheit hatte bzw. eine Dienstwohnung frei benützen konnte (BGE 132 I 29 E. 4.3 in fine S. 38). Diese Voraussetzung ist bei einer Person in leitender Stellung unabdingbar, muss sie doch durch die Ausübung der beruflichen Tätigkeit so stark beansprucht werden, dass die Bindungen zum Arbeitsort überwiegen, was nicht der Fall ist, wenn Arbeitsort und gelegentlicher Übernachtungsort auseinander fallen bzw. nicht einmal im gleichen Kanton liegen (vgl. Felix Richner/Walter Frei/Stefan Kaufmann/Hans Ulrich Meuter, Kommentar zum harmonisierten Züricher Steuergesetz, 2. Aufl. Zürich 2006, Rz 44 zu § 3 StG ZH). Anders verhält es sich bei unselbständig erwerbstätigen Personen in nicht leitender Stellung, wo weniger der Arbeitsort als solcher, als der Ort, wo sie sich während der Woche aufhalten, um von dort aus der täglichen Arbeit nachzugehen, entscheidend ist (Urteil 2P.59/2004 vom 30. August 2004 E. 2.1; vgl. auch das Urteil 2P.179/2003 vom 17. Juni 2004).

4.

Die Beschwerde erweist sich mithin gegen den Kanton Aargau als begründet und ist gutzuheissen, soweit darauf einzutreten ist. Das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau vom 7. Februar 2007, welches das Hauptsteuerdomizil des Beschwerdeführers ab Steuerperiode 2004 dem Kanton Aargau zuweist, ist daher aufzuheben. Die sich gegen den Kanton Zürich richtende Beschwerde ist demgegenüber abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. 5. Bei diesem Verfahrensausgang werden die bundesgerichtlichen Kosten dem Kanton Aargau, der Vermögensinteressen wahrnimmt, auferlegt (Art. 65 f. BGG). Dieser hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen (Art. 68 BGG). Das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau wird über seine Kostenverteilung neu zu befinden haben.

 

Demnach erkennt das Bundesgericht:

  1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen den Kanton Aargau wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, und das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau vom 7. Februar 2007 wird aufgehoben.
  2. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen den Kanton Zürich wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
  3. Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird dem Kanton Aargau auferlegt.
  4. Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- auszurichten.
  5. Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Steueramt des Kantons Aargau, dem Kantonalen Steueramt Zürich, dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau sowie der Eidgenössischen Steuerverwaltung schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 11. September 2007

Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

 

Quelle: Schweizerisches Bundesgericht, 2C_112/2007